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Paul Geilsdorf

 

Paul Geilsdorf

Was Hochmut spricht, das dauert nicht Oder: Das bessere Lied

Als die evangelisch-lutherische Kirche vor fünf Jahren ein neues Gesangbuch herausgab, verblieb aus der Feder Paul Geilsdorfs unter M378 das 1940 geschaffene Lied "Es mag sein, dass alles fällt", dessen Verse Rudolf Alexander Schröder 1937 geschrieben hatte. Die Vorgänger-Ausgabe des Gesangbuches, die seit alters her jahrzehntelang in den hiesigen evangelischen Kirchen im Gebrauch war, wies noch die doppelte Anzahl Lieder des Komponisten auf. Wandel und Vergehen überall, er sähe es in Langmut gelassen.

Mit der Kriegseskalation auf dem Balkan gerät vieles aus den Fugen. Selbst Lieder, die man sich nach altem Maßstab zu deuten geübt glaubte, zeigen sich in gewandelten Sinnzusammenhängen: "Es mag sein - die Welt ist alt - Missetat und Mißgestalt sind in ihr gemeine Plagen. Schau dir's an und stehe fest: nur wer sich nicht schrecken läßt, darf die Krone tragen." Ein oft gesungenes Gebot Paul Geilsdorfs in Liedgestalt! Die Dimension des geistlichen Liedes in den Kategorien zwischen Angst und Zuversicht tritt aus den Christenkirchen hinaus und gebietet ökumenische Weite nach dem im New Yorker UNO-Park durch Wutetitschs Plastik figurgewordenes Bibelwort: Laßt uns die Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Wann? Sofort? Danach? Auf Dauer? Mit Sicherheitsreserven?
"Aber ich erkenne, wie ich versagt habe in Egoismus und Trägheit des Herzens", beten Christen. Und die anderen, die Nachfahren derer, die mit ihren Müttern in den Chemnitzer Luftschutzkellern des Zweiten Weltkrieges flehten: "Lieber trocken Brot essen, aber nie wieder Phosphorfliegerbomben."

Paul Geilsdorf erlebte zwei Weltkriege mitsamt Vertreibung unmittelbar: In seiner Kirche St. Petri am Theaterplatz, fanden 1944/45 hunderte Familien nach den endlosen Trecks der deutschen Ost-Flüchtlinge Obdach zwischen den Kirchenbänken. Wer es erlebt, vergißt es nie - Politik der Vertreibung, Politik mit Vertriebenen. Bewegt auch von solchen Impressionen, spannte Paul Geilsdorfs reiches Chorschaffen als Dirigent und Komponist in Chemnitz dank stets erlesener weltlicher Thematik den Bogen zu allen Lebensformen des Alltags, die er wohl eher als Einheit denn als streng zu trennende Kategorien künstlerisch empfand. Ein gebürtiger Chemnitzer war der Petri-Kantor zwar nicht, aber die längste und wichtigste Zeit seines Daseins, fünf Jahrzehnte, hat der Vogtländer hier verbracht. Seit 1917 Kantor in Chemnitz, später Kirchenmusikdirektor, seit 1947 an der Ladegast-Orgel in St. Petri-Lukas. 86jährig verstarb er 1976. Dass sich der Chemnitzer Kirchenmusiker speziell diesen eingangs zitierten Zeilen Schröders, des späteren gottesdienstlichen Lektors, annahm, war offenbar bedachtes Bekenntnis, hatte sich doch jener nahestehende Bremer Maler, Übersetzer und Innenarchitekt mit seinen Gedichten im Kirchenkampf der dreißiger Jahre festgelegt: "Was Hochmut spricht, das dauert nicht." (A225)

Das jetzt im neuen Gesangbuch nicht mehr enthaltene Lied mit dem Text des 1883 in Zürich geborenen und allezeit dort lebenden Adolf Maurer begann mit den Geilsdorf zur Komposition gebotenen Worten "Herr, du hast alles, Himmel und Erden, Wandel und Werden in deiner Gewalt". Die Eskalation von Vertreibung und Krieg, Völkermord und Waffendünkel auf dem europäischen Balkan ist gottbefohlen vielleicht schon Geschichte, wenn der Leser diese Zeilen kennenlernt. Selbst dann wären sie verdammenswert, weil sie die Tränen der Mütter und die Kriegserfahrungen gepeinigter Generationen missachtet.

 

 

 Quelle: Stadtstreicher Chemnitz, Addi Jacobi