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Wolfgang Emmerich

 
 

Prof. Dr. Wolfgang Emmerich

Vom Aufscheinenlassen des Anderen

Unmöglich, diesem Kaßbergsohn auf engem Platz gerecht zu werden. 1941 Germania-/Ecke Kanzlerstraße aufwachsend, dann bis 1958 in der Erich-Mühsam-Straße als Fußballbolzer."Die ideologische Beeinflussung durch Westsender," hieß es im Mai 1957 in der Karl-Marx-Städter "Volksstimme", "ist ja bei den Schülern Alisch, Emmerich, Großner, Reichelt nicht erfolglos geblieben." In jenen Wochen mag der Oberschüler Emmerich seinen Namen wohl erstmals so oft gedruckt vor Augen bekommen haben, veranlaßt durch Fragen, die ein systemkonformes Jugendforum mit hunderten Oberschülern ausgelöst und die Funktionäre rasch überfordert hatten. Redliche Fragen hatten Substanz, "das kapitalistische System zu verherrlichen."
Wolfgang Emmerich brachten sie unverzüglich die höchste Schulstrafe ein, ab Juli 1958 wurde er "nicht leichten Herzens und eher langsam ein Westbürger." Rezensionen und Hörfunksendungen, Zeitschriftenaufsätze in großer Zahl und mehr als ein Dutzend Monographien verbinden sich inzwischen mit seinem Namen, jüngst erst die (nochmals erweiterte Neuausgabe) seiner "Kleinen Literaturgeschichte der DDR" von 1996. Schon die erste Buchpublikation, 1968 auf der Dissertation fußend herausgebracht, hatte es in sich: "Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten Reich." Eine wissenschafts- und ideologiegeschichtliche Arbeit Emmerichs, "die vor allem zum Gegenstand hat, wie sich deutsche Germanistik und Volkskunde im Dritten Reich angepaßt oder unterworfen haben." Um die Leserbriefakteure von vor 40 Jahren ist es nahezu still geworden...
Die Professur für Literaturwissenschaft an der Bremer Universität hat ihm auch die hanseatischen Straßen und Plätze längst zur Heimat werden lassen: "Wenn ich über den Marktplatz gehe, das Rathaus und den Dom in der Abendbeleuchtung sehe, dann weiß ich, daß ich jetzt hier zu Hause bin. Heimat ist dort, wo man sich am besten auskennt, und ein Ort, von dem man weiß, daß man sich dort wohlgefühlt hat und daß das Herz daran hängt. Insofern habe ich heute eigentlich zwei Heimaten. Die eine ist Chemnitz und das Vorerzgebirge, Kleinolbersdorf. Das bleibt auch mein Leben lang so. Aber Bremen ist mir nach den fast acht Jahren in Tübingen auch zu einer zweiten Heimat geworden."
Im Gespräch die Wertung europäischer Dimensionen oder entsprechender Visionen erbittend, zeigt sich die spezifische Sicht Wolfgang Emmrichs: "Zuerst die Region, in der ich lebe, zugleich der europäische Kulturraum. Das steht mir gleichwertig an erster Stelle. Dann kommt erst die Nation."
Von den aus Chemnitz hervorgegangenen bevorzugt Emmerich markant zwei Lyriker: "Barbara Köhler halte ich für hochbegabt. Sie steht mir von den aus Chemnitz hervorgegangenen Schriftstellern am nächsten. Wie auch Richard Leising." Zu Irmtraud Morgner habe er ein eher ambivalentes Verhältnis, die ursprüngliche Wertschätzung habe sich dann abgeschwächt. Auf Hermlin angesprochen, kommt Emmerlich bald auf jene narzißtischen Größenphantasien zu sprechen, die seit der jüngsten Veranlassung in noch grellerem Licht stehen. "Was ich über die Autorperson Hermlin erfahren habe, hat mich betrübt. Das trenne ich aber ab von dem dichterischen Werk, das ich grundsätzlich bei DDR-Autoren nicht in den Orkus werfe, weil die Autoren Irrtümer, Fehlleistungen und charakterliche Mängel aufzuweisen haben." Und außerdem: "Interessant finde ich, wie Linke in Ost und West das Bedürfnis nach solchen heroischen Lebensläufen hatten. Und daß wir die Mythen stets auch sehr gern geglaubt haben." Es sei die Sehnsucht nach einem Guten, dem Anderen gewesen, "dem geglückten, dem moralisch authentischen Leben. Das macht jetzt, glaube ich, auch das Engagement, den Sturm und die Emotionalität in der Hermlin-Debatte aus. Denn alle Mythen zehren ja davon, daß sie geglaubt werden."
Seine alte Heimatstadt wird Prof. Dr. Wolfgang Emmerich jetzt im April erneut wiedersehen, um auf Erich Loests Einladung ein kongreßbegleitendes Kolloquium zu fundieren: "Gab es eine DDR-Literatur?" Emmerichs Werkverzeichnis mit hochbeachtlichen Arbeiten hat sich längst Titel um Titel im Bestand der Chemnitzer Stadtbibliothek einen Ehrenplatz erworben. Daß er dort (wie auch beim Kongreß) mit manchem regionalen Fachkollegen auf Tuchfühlung kommt, der damals auf der anderen Seite der Barrikade zu sehen war, spricht eher für Format und Toleranzfähigkeit der Beteiligten als für kleingemusterte Aufrechnerei. Willkommen an der Chemnitz!

 

Quelle: Stadtstreicher Chemnitz, Addi Jacobi